Und weil alles Schlechte meistens von etwas gutem Eingeholt wird, hier meine grandiose Zeit, die ich nach meiner Ankunft in Prag hatte.
Ich liebe das Leben. Nicht nur meins, sondern das Leben im allgemeinen. Doch habe ich auch verstanden, dass es nicht einfach auf uns zu kommt. Tatsächlich ist es genau andersrum. Das Leben kommt aus uns raus. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn irgendwann ist nichts mehr da. Das ist ein bisschen furchteinflößend, heißt aber auch, dass das Abenteuer nur dann hinter jeder Ecke lauert, und das Glück nur dann auf der Straße liegt, wenn wir uns aktiv auf den Weg machen, es zu finden. Jedenfalls glaube ich das. Und in diesem Glauben wurde ich oft genug bestätigt.
Wie an meinem ersten richtigen Tag in Prag. Komplett am Ende bin ich in dieser Stadt angekommen. Einfach „Nicht mein Tag“. Immerhin Obdach für die erste Nacht hatte ich organisiert. So konnte ich mich sammeln und den Dreck der Straße von mir und aus meinen Klamotten waschen. Doch nun stand ich völlig planlos vor Max Tür und hatte keine Ahnung wohin. Weder gerade in diesem Moment, noch wusste ich, wo ich später schlafen sollte. Immerhin eins war klar: Meine selbstgesteckte Herausforderung nichts für Unterkünfte zu zahlen, werfe ich nicht in der ersten Stadt außerhalb Deutschlands übern Haufen. Also musste ein Plan her.
Ich fahre erstmal ins Zentrum. In die Altstadt genauer gesagt. Das Sandstein-gemauerte Moldau-Ufer zieht neben mir dahin und ohne den Regen wirken Kopfsteinpflaster und Tram-Schienen weit weniger bedrohlich als Tags zuvor. Hinter einer der vielen steinernen Bogenbrücken fahre ich eine breite Rampe zum unteren Ufer hinab und sehe den ersten Prager, der mir grundsympathisch vorkommt. Bart, tätowierte Arme und Beine, Cap und irgendein großer Mischlingshund an der Leine, in dem wohl 20 Generationen Prager Straßenhunde stecken. Ich frage ihn, wo er hingehen würde, um guten Kaffee und Frühstück zu bekommen. Bei Max gabs zwar grandiose Spiegeleier aber ich hab schon wieder Hunger. Und will mir die Zeit nehmen in dieser Stadt anzukommen. In dieser Stadt, die mich zwar so herzlos begrüßt hat, die mich trotz alledem aber auf magische Weise fasziniert.
Und mir sagt, ich möge bleiben.
Er überlegt eine Weile und schickt mich in den Riegrovy Sady Park. So ganz checke ich zwar nicht, wie ich in einem Park an Frühstück kommen soll, aber ich bedanke mich erstmal und fahre weiter. Ihn zu fragen, ob ich nicht zufällig bei ihm pennen kann, traue ich mich da noch nicht. Denn auch wenn ich schon viel unterwegs war, wildfremde Menschen nach einem Schlafplatz zu fragen, liegt weit außerhalb meiner Komfortzone. Sehr weit.
Also muss ich erstmal Mut sammeln.
Zunächst schiebe ich Helge durch die pastellfarbenen Gründerzeitstraßen der Stadt, in denen immer wieder der Putz von der Fassade bröckelt. Ein Mann mit Regenschirm schaukelt über der Tram hin und her und zwischen Kirchen, Wehrtürmen und Ost-Block bauten scheine ich so ziemlich jede Sprache zu hören, die ich zu kennen glaube. Bevor ich mich in einem Outdoor-Geschäft wetterfest mache, genehmige ich mir ein Marzipan-Croissant. Man gönnt sich ja sonst nichts…. Außer die zahllosen Flat Whites, Cappuccinos, Küchlein und das ein oder andere Bier das noch folgen werden, bevor ich mich endlich in den Park aufmache, um mein Glück zu finden. Zwar hatte ich schon halbherzig einige Service-Kräfte gefragt, wo sie nach Menschen suchen würden, die mutig, dumm und offen genug sind, wildfremde Menschen bei sich aufzunehmen oder nicht vielleicht genau so eine Person kennen würden, doch eigentlich wusste ich von Anfang an, dass diese Versuche zum Scheitern verurteilt waren. Nicht dass sie mich nicht Überwindung gekostet hätten. Doch war ich selbst noch nicht überzeugt.
Wenn ichs noch hinbekommen will heißt es jetzt also „Fuck it, let’s go – und versuchs so lange, bis es klappt!"
Wenn ich diesem einfachen Grundsatz folge, lohnt es sich am Ende eigentlich immer. Und irgendwie weiß ich, dass im Riegrovy Park jemand auf mich wartet. Immerhin hat mich meine Intuition zu dem Typ mit Hund geführt, der mich dann hierher geschickt hat. Und der kann ich eigentlich immer vertrauen.
Mein erster Versuch macht direkt Hoffnung. Arthur würde mich sofort hosten, allerdings wohnt er in einer 5er WG. Zur Zwischenmiete. Für zwei Wochen. Und muss morgen um 6 raus. Alles gute Gründe keinen bekloppten Radfahrer bei sich aufzunehmen. Und ehrlich gesagt, will ich auch nicht um 5 aufstehen. Ich fahre weiter durch den Park und spreche alle möglichen Leute an. Wichtigstes Zielgruppenkriterium: Anders sein.
Oder zumindest danach aussehen. Denn wenn ich zuverlässig ein schnelles und gelegentlich unfreundliche Nein bekomme, dann von allen, die genau nach Norm aussehen. Das soll nicht abwertend klingen – keineswegs. Aber der Durchschnitts-Mensch nimmt einfach keine Wildfremden bei sich auf. In einigen Fällen mag das nicht unbegründet sein.
Also steuere ich alle an, die anders sind. Relativ leicht, in dieser Stadt. Den Festival-Gänger mit riesigen Tunneln und wasserstoff-blonden Haaren und seinen Kumpel mit rotem Vollbart, der bis zum Bauchnabel reicht, zum Beispiel. Oder das Hardrock-Pärchen mit zutätowierten Hälsen und Händen. Die Studentengruppe in der jeder bunte Haare hat vielleicht? Am Ende sagen zwar alle nein, trotzdem geben mir alle das Gefühl, dass es sich lohnt weiterzumachen. Und ich weiß ja auch, dass in diesem Park jemand sitzt, der nur darauf wartet, von mir angesprochen zu werden.
Die Frage ist bloß, wer das sein könnte.
Mark, der Hyperrealismus Künstler mit 6-monatigen knutschkugel-Hund? Nein, der braucht seinen Personal-Space und seine Wohnung ist ihm heilig. Der nach Spanien ausgewanderte Tscheche mit einem Wasserfall blonder Locken? Nein, der ist nur bei seinen Eltern zu Besuch…
Mhhhh und was ist mit den Metal-Heads, die da oben auf der Wiese sitzen? Ich lasse Helge auf dem Weg stehen, stapfe hoch und laber sie an.
„Hi what’s up? Are you guys from Prague?“ „Not exactly… but we live here“ „Perfect! I‘m Julius and I cycled here from Hamburg… „you did what?“ – long story short: wir kommen ins Gespräch. Vor allem mit Nae [Nai] verstehe ich mich gut. Der hat einen komplett zerrissenen Pulli an, dicke Balken ins Gesicht tätowiert, halbseitig geschorene Haare und auf der anderen Seite lange Dreads. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Eltern ihre Kinder vor „solchen Menschen“ warnen würden. Als ich erzähle, dass ich einen Schlafplatz suche, sagt er fast sofort ja. Er wohnt in einer WG mit Axel, dem Groin Chore Drummer aus den Niederlanden, der mindestens genauso tätowiert ist wie er, ansonsten aber mehr wie ein Punker aussieht, als wie ein Satanist. Denn das ist Nae auch noch. Und Komponist einer Suicidal Metal Band mit dem Namen AntiLife.
Ich liebe das Leben. Das heißt aber nicht, dass ich erwarte, dass jeder sein Leben liebt. Denn wer bin ich schon, zu beurteilen, was Menschen durchgemacht haben und wie sehr es sie geprägt hat. Nae zum Beispiel hasst seins. Aber er liebt die Menschheit. Nicht die Gesellschaft - die auf keinen Fall - sondern die Menschlichkeit.
Mit der Einladung setze ich mich zur Ihnen und bekomme sofort ein Bier in die Hand gedrückt. Das schmeckt. Die Gruppe besteht neben Nae und Axel aus Mike – einer Hardrock Version von Mr. America mit NRA Cap und allem, nur eben all Black angezogen – und zwei tschechischen Mädels. Ihre Namen konnte ich mir leider nicht merken.
Wir reden über meine Reise, griechische Götter und Prag. Und darüber, was sie hierher verschlagen hat. Im Endeffekt ist die Antwort bei allen die Selbe. Zu Hause gab es nichts mehr für sie. Und nichts klingt bei jedem von ihnen sehr wörtlich.
Also musste ein neues Leben her. Die perfekte Stadt dafür? - Prag.
Auch wenn viele die Jungs wohl als grenzwertig sehen würden, verstehen wir uns prächtig. Aus einer Nacht werden zwei. Nae meint meinem „Angelic Face“ könne man nichts abschlagen. Lustig, das von einem Satanisten zu hören. Aber was soll das schon sein? Ein Satanist? Einfach jemand, der erkannt hat, dass wir nach biblischer Auslegung eigentlich ununterbrochen in Sünde leben. Und man dementsprechend besser einem gefallenen Engel huldigen kann, als sonst irgendeinem. Konsequent, denke ich.
Am Ende erklärt er mir, dass er eigentlich auch nur „Atheist with extra steps“ ist. Was bei mir wirklich hängen bleibt ist, dass er ein lieber Kerl ist, der auch nur versucht das Beste aus seinem Leben zu machen. Und dabei nach zwei einfachen Regeln lebt.
1. Try not to be a cunt.
2. Do whatever you want. (Even if it implies to be a cunt sometimes.)
Ein grundsympathischer Kerl eben.
Als ich Prag verlasse habe ich das Gefühl neue Freunde gewonnen zu haben. Nicht das letzte Mal auf dieser Reise. Abgesehen davon ist der Tag wie der der Anreise: Es regnet. Ununterbrochen regnet es. Nach 100 km bin ich klitschnass und fahre an einem Friedhof vorbei. Wieder mal lasse ich es auf meine Intuition ankommen und schaue ihn mir genauer an. In der letzten Ecke steht ein kleines Betriebshaus, das nicht verschlossen ist. Lediglich die rostigen Scharniere und eine Vielzahl von Spinnenweben halten die Tür etwas fester als erwartet. Ein trockenes Plätzchen für die Nacht – da sage ich nicht nein. Und richte mich auf der Sargtrage ein.
Irgendwie auch bezeichnend, dass ich nach meiner Zeit mit Nae auf einem Friedhof unter Spinnen schlafe.
Und das so lang und erholsam wie selten zuvor.
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Tina (Montag, 17 Juli 2023 11:47)
LIEBE ICH!!! Deine Geschichten zu lesen! � Ich bin dir letztes Jahr in Wien am Radweg begegnet und habe dich angesprochen, fands lustig, dass du genau das gleiche (geographische) Ziel hattest wie ich 3 Wochen zuvor - und bin deiner Reise seither auf Instagram gefolgt, auch der jetzigen. Da ich jetzt aber meiner Leselust frönen will und das Scroller - doom gegen Blogs und Bücher eingetauscht habe, komme ich endlich dazu, deinen Blog zu lesen und ich muss sagen, SEHR UNTERHALTSAM! SEHR AUTHENTISCH! SEHR MITFIEBER-BAR! ❤️