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Am Abgrund

Ein etwas düsterer Text, der sich mit dem größten Problem unser Zeit beschäftigt: der Klimakrise.

Und mit dem Gefühl, das sie und die Wunden, die wir in die Welt schlagen, auslösen können. 

Doch so erdrückend alle Probleme auch sein mögen, so befreiend ist es, meine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Und einen Blick in eine Welt zu werfen, die von nichts als Hoffnung lebt. 

Es ist Oktober, ich sitze im Zug von Brüssel nach Aachen und draußen sind 24 Grad.


Irgendwie bin ich froh, dass ich aus Griechenland nicht direkt in den nass-kalten Herbst Mitteleuropas geworfen wurde, doch im Grunde weiß ich, dass das Wetter genauso unnatürlich ist, wie die Hitze im Sommer und der ausbleibende Schnee im Winter. 


Wie die Waldbrände, die Trockenheit und die sintflutartigen Regenfälle. 


Die Welt ächzt. Und ich bin auf dem Weg, mir eine ihrer Wunden anzusehen. 

Auf dem Weg nach Lützerath. Ein Dorf am Rande von Garzweiler II. Dem wohl umstrittensten Braunkohletagebau Deutschlands. 


Einem braunem Loch, das sich Kilometer um Kilometer in die Ferne erstreckt. 


Ein Loch, in dem ein Dorf nach dem anderen verschwand. 


Dörfer wie Garzweiler, Modrath und Fortuna. 


Holtrop, Wiedenfeld und Frauweiler. 


Winkelheim, Buchholz und Pesch. 


Und bald auch Keyenburg, Westrich und Lützerath. 


Geschluckt von einem Loch, das neben den Gärten und Häusern auch die fruchtbarsten Böden Europas verschlingt. 


Ein Loch, das wie ein Tumor immer weiter wächst. 24 Stunden am Tag. 365 Tage im Jahr. Rattern Die Fließbänder und tragen die entzündliche Fracht zu zwei rauchenden Säulen am Horizont. Frimmersdorf und Neurath. Die Dörfer in denen die Kohlekraftwerke stehen, dürfen bleiben. 


Die gesamte Kulisse ein Sinnbild für das Märchen vom grenzenlosen Wachstum. 


Auf der ersten Ebene ist der Boden noch sandig. Auf der zweiten wird er grau. Die riesigen Bagger auf den tieferen Terrassen, rollen durch eine braun-schwarze Welt. Im 300 Meter tiefen Loch wirken selbst die größten Landmaschinen der Erde winzig. 


Wenn ich so an der Kante sitze, und hineinblicke, fühle ich mich zurückversetzt nach Kroatien, Brandenburg und Montenegro. Auch dort war ich von schwarzen Löchern umgeben, die das Flammenmeer in die grünen Landschaften riss. 


Die gleiche Taubheit. Die gleiche Verständnislosigkeit. Nur um ein vielfaches skaliert. Denn dieses Loch, ist kein Versehen. 


Freitag Nacht werfe ich den ersten Blick in Garzweiler II. Sekunden später strahlt mir ein Hochleistungsscheinwerfer aus der Grube entgegen. Freundliche Grüße von RWE. Noch nie hat mich ein Anblick so sehr erschüttert. Riesige Raupen aus Stahl nagen sich in das Land. Darüber das rote Blinken von 66 Windrädern. Auch wenn sie vom Wandel zeugen, lassen sie diese Landschaft nur noch absurder – noch dystopischer – wirken. Geblendet vom Licht wird mir flau im Magen. Die Kuhle dröhnt mir entgegen. Ich muss mich setzen - auf einen der weißen Gartenstühle, die die Abbruchkante vor Lützerath säumen. Vor Kurzem waren es noch 800 Meter bis zum Dorf. Jetzt sind es nichtmal 100.


Gewissermaßen ist dieser Tagebau Ausdruck aller Probleme der letzten Jahre. Sinnbild und Ursache der Krisen, die mir auf dem Weg zum Olymp ständig vor Augen geführt wurden. Die ich mir bewusst vor Augen geführt habe. 


Fossile Energieträger, Klimawandel, Trockenheit, Krieg, Autokraten, Biodiversitätsverlust und der Raubbau an Lebensraum. Sie alle bedeuten den Verlust von Freiheit. So wie die Freiheit in diesem klaffenden Loch verloren geht. Unendlich viel Platz. Zeitlos gefangen im unaufhörlichen Knarzen der Schaufelräder. Doch frei von Leben, sind selbst Raum und Zeit bedeutungslos. 


Es gibt Dinge, die reicht es nicht zu sehen – über die reicht es nicht zu lesen. Man muss sie auf sich wirken lassen, um das Wissen mit Bedeutung zu füllen. Auch darum, geht es mir hier. 


Stunden über Stunden werde ich am Wochenende an dieser Kante sitzen und in das Loch starren. 


Turmfalken stehen direkt vor mir in der Luft und lassen sich 50 Meter in die Tiefe stürzen. 


Banner und Papierflieger werden hinterhergeworfen. 


Eine Schafherde meckert hinter mir entlang. 


Auf der Sonntagsdemo stehen hunderte Besucher und singen im Chor. 


Lützi bleibt! – Die Botschaft der Stunde. 


Zwei Worte, kaum mehr als eine Hoffnung. Und doch ein Schlachtruf. Ein Glaube und eine Gemeinsamkeit. Ein Fundament für eine reale Utopie. 


Eine Utopie direkt am Abgrund. 

Ein Ort an dem allen mit Respekt begegnet wird, an dem alle willkommen sind und der so viel offener ist, als es den Anschein erwecken könnte, wenn man auf die Barrikaden zugeht. Nicht mehr als eine Notwendigkeit, wenn auf Geheiß eines Konzerns deine Welt zerstört werden kann. Inzwischen zu fast jedem beliebigen Zeitpunkt. 


Trotzdem wird unentwegt gearbeitet. An neuen Baumhäusern, besserer Infrastruktur, Bannern und Barrikaden. Es werden Fähigkeiten ausgetauscht, Pläne geschmiedet, gekocht, gegessen und geteilt. Auch der Schmerz und die Wut darüber, dass diese Welt nun nichtmehr sein darf. Fast wirkt es, als würde es nicht reichen sie zu ignorieren. Als müsste sie zerstört werden. 


Eine kleine bunte Welt vor dem Abgrund.

Nicht perfekt, aber wunderbar. 


Eine Welt, in die ich schon vor zwei Monaten einen Blick werfen durfte, als ich dabei half, eine alte sozialistische Cafeteria nutzbar zu machen. 


Eine Welt, die man nicht begreifen kann, wenn man sie nicht erlebt.

 

Und eine Welt, der ein gemeinsamer Glaube zu Grunde liegt:


Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. 


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Kommentare: 2
  • #1

    Frido � (Montag, 24 Oktober 2022 11:58)

    Wahnsinn! Toll geschrieben; mitreißend, erklärend und vorallem scharfsinnig beobachtend.✊ Meine Faust ist erhoben, denn das Unrecht wird begangen..

    Lg frido

  • #2

    Dr. Timo Norman Baum (Donnerstag, 27 Oktober 2022 12:42)

    Ich bin auch sehr bewegt und danke für die bewegende Schilderung. Versuche, bald auch vorbeizukommen und mir ein Bild von den malignen Machenschaften zu verschaffen, die während der sogenannten Zeitenwende geschehen…