Wie so oft wache ich im Zelt auf und blinzle mir den Schlaf aus den Augen. Es ist kalt, feucht und etwas muffig. Bedächtig prasselt der Regen auf die Zeltplane und lädt mich ein, mich tiefer in den Schlafsack zu verkriechen. Doch es ist der 14. Januar 2023 und die Welt ist im Aufbruch. Meine Welt zumindest.
Ich liege nicht allein an irgendeinem Strand, mit einem fernen Ziel vor Augen, sondern zusammen mit Friedel auf einer sumpfigen Wiese. Der Niersquelle, um genau zu sein. Hier, wo vor der Grundwasserabsenkung für den Garzweiler II jährlich 1,5 Milliarden Liter Wasser aus dem Boden strömten, sind wir umgeben von zahllosen anderen Träumenden. Träumende, die alle das gleiche Ziel vor Augen haben – Lützerath.
Es ist der Morgen der angekündigten Großdemonstration und tausende strömen aus ganz Deutschland ins rheinische Revier, um für eine lebenswerte Zukunft, für ein Moratorium für Lützerath und für ein Ende der Kohle zu demonstrieren. Fünfunddreißigtausend Menschen sollen es werden. 35 Tausend Menschen, die die Bahnhöfe der Republik zum erliegen bringen. Während sich die Massen in unsere Richtung bewegen, schälen wir uns hoffnungsvoll aus unseren Schlafsäcken und krabbeln unhandlich aus meinem Zelt. Praktisch schwimmen wir auf der Wiese. Statt aus dem Boden scheinen die 1,5 Milliarden Liter Wasser aus dem Himmel gefallen zu sein. Nicht die besten Voraussetzungen für die voraussichtlich größte Demo des Jahres.
Wir stapfen über ausgetretene Pfade in „Unser aller Camp“. Das legale Ausweichlager zur Besetzung Lützeraths platzt aus allen Nähten. Der Grund weshalb wir letzte Nacht in einem von vier Ausweichcamps vom Ausweichcamp aufschlagen mussten. Waren wir auch die ersten auf der Wiese, dauerte es doch keine halbe Stunde, bis wir umstellt waren - die Wiese bis auf den letzten Meter mit Zelten gefüllt. Und statt auf Rasen, stehen wir im Schlamm. Wir, das ist meine Bezugsgruppe von vier Freunden und mir. Heute passen wir aufeinander auf. Dass jeder frühstückt zum Beispiel. Und dass wir trocken bleiben. Daher der Name – Los Ponchos.
Während der warme Porridge uns die Bäuche füllt, sprechen wir über unsere Wünsche und Ziele für den Tag. Unsere Unzufriedenheit demonstrieren, keine Frage. Ziviler Ungehorsam als probates Mittel. Doch gewaltfrei, da sind wir uns kompromisslos einig, wollen wir in jedem Fall bleiben. Wie auch alle anderen Demonstranten mit denen wir sprechen, wollen wir nicht nur den Ruf der Klimabewegung unversehrt lassen, sondern auch selbst unversehrt nach Hause kommen. Ganz abgesehen davon, dass niemand von uns andere Menschen versehren will. Sorge vor einer Konfrontation haben wir trotzdem. Nicht zuletzt meinetwegen – mit so einem gebrochenen Bein sollte ich mich nicht schubsen lassen. Aber dazu später mehr.
Die Zeit verfliegt und kurz darauf laufen wir im Strom. Eine pinke Marschkapelle trommelt ihre Rhythmen und um uns herum fließen die Menschenmassen über die Landstraße. Noch nie war ich auf einer so gigantischen Demonstration. Ich biege um eine Ecke, schaue über den nächsten Straßenkilometer und sehe einen unaufhörlichen Fluss bunter Fahnen. Die Menge singt, tanzt, lacht und skandiert.
Ich sag Lützi, ihr sagt bleibt!
Lützi – bleibt!
LÜTZI – BLEIBT!
LütziLütziLützi – BLEIBTBLEIBTBLEIBT!
Ein irrsinniger Wunsch, wenn man bedenkt, dass die Entscheidung auf fast jeder Instanz gefällt wurde. Doch noch ist die Kohle im Boden.
Als ich das nächste Mal zurückschaue, überblicke ich denselben Kilometer wie zuvor. Aus umgekehrter Perspektive. Noch immer ist die Masse ungebrochen. 35 Tausend Menschen fühlen sich nach keiner Übertreibung der Veranstalter:innen an, sondern nach der Realität. Davon zeugt auch die wie wahnsinnig zählende Aktivistin, die mit umherzuckenden Augen auf einer Mauer steht und jeden einzelnen Menschen zählt. Tack – Tack – Tack – Macht ihr Zehnerzähler im Sekundentakt.
Ich treffe einen Musiker, der nackt am Grubenrand steht und sein Lied in die Gitarre schmettert. Die Polizei so verwirrt, dass sie ihm keinen Platzverweis ausspricht. Wenig später spielt ein Geiger seine Stücke und bezaubert den Strom. Diesmal angezogen. Aus dem ersten Stock eines besetzen Hauses des Städtchens Keyenberg singen uns Autonome entgegen. Wie die meisten Häuser hier, steht es seit Jahren leer. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Land seit kurzem vor dem Abbaggern verschont bleiben soll. Für die Menschen, deren Heimat sich hier befindet, kam der Deal zu spät.
Zwischen den runtergelassenen Rollläden der Backsteinfassaden stimme ich aus voller Kehle meinen Lieblingsgesang an:
Power to the people!
Bangend warte ich den Bruchteil einer Sekunde auf das Echo, bevor es wortgleich aus hunderten Stimmen erschallt.
Cause the people got the power! […]
Tell me can you feel it? […]
Gettin stronger by the hour! […]
Endorphine rauschen mir durch den Körper und kribbeln vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Von Kälte und Regen ist nichts zu spüren.
Kaum könnte es schöner sein.
Als wir zwischen den Häusern hervorschreiten, peitscht uns das Wetter umso unbarmherziger entgegen. Doch auch das kann unseren Elan nicht brechen. Los Ponchos sei Dank! Der letzte Kilometer verfliegt und wir kommen 300 Meter vor der Bühne zum stehen. Aus Boxentürmen schallt uns Greta Thunbergs Stimme entgegen. Eine von vielen. Alle haben dieselbe Botschaft: Noch ist die Kohle im Boden. Es zwingt uns niemand, sie auszugraben. Mit ihr das geringe CO2 Budget zu verbrennen, das uns noch bleibt – es überschreitet Fahrlässigkeit.
Die ersten gehen nach Hause. Doch mit den Baggern in Sicht, ist die Versuchung für die Meisten zu groß. Ein Blick ins Loch wird doch nicht schaden. Und schon brechen Tausende aus der offiziellen Demonstrationsroute aus. Nur wenige hundert Meter trennen sie von der Abbruchkante. Meter, die den Unterschied zwischen demonstrieren und zivilen Ungehorsam machen. Die Einsatzkräfte versuchen garnicht erst den bunten Strom aus Familien, Senioren, Aktivisti und sonstigen Demonstrierenden aufzuhalten. Am Abgrund steigt sie auf – die euphorisierende Wut. Und die Frage wieso es sein muss. Dass dieses Dorf dort, von dem nun kaum noch etwas übrig ist, abgebaggert wird. Dieses Dorf aus dem in den vergangenen Tagen hunderte Menschen geräumt wurden. Dieses Dorf mit seinen Baumhäusern, Holzhütten und Monopods. Das Dorf mit den vielen bunten Sprüchen an den Wänden und den noch bunteren Menschen dazwischen. Und so passiert das Unvermeidliche: Die Masse geht weiter. Nicht alle, aber viele. Genug, dass die Polizei selbst direkt vor ihrem Wall aus Erde, Uniformierten, Autos und Bauzäunen - und Bauzäunen – noch in „Straftäter“ und „Unbeteiligte“ unterscheidet, um die Menge zu spalten. Dabei begehen doch alle Menschen hier Landfriedensbruch. Nicht mehr und nicht weniger.
Es ist ein Wunder, dass wir es den ganzen Tag geschafft haben, unsere Gruppe nicht aus den Augen zu verlieren. Dass Los Ponchos sogar um weitere Freunde gewachsen ist, die wir auf dem Weg einsammeln konnten. Dass wir nun hier das Dorf umstellen - eingehakt in eine friedliche Menschenkette, die die klare Botschaft sendet: hört auf damit! – mit der Räumung, dem Abbaggern und der Gewalt. Denn ja, zur Gewalt kommt es. Wer wo angefangen hat, das kann ich bei einer kilometerlangen Menschenkette nicht überblicken. Dafür will ich nicht bürgen. Doch die Tendenz der Erfahrungsberichte ist eindeutig und zeigt sich auch in unserem Abschnitt.
Als wir nach Stunden aufgefordert werden sofort zu gehen – inzwischen ist es Dunkel und viele sind wir nicht mehr – bewegt sich zeitgleich die Wand aus Polizisten auf uns zu und wir leisten Folge. Zu langsam scheinbar. Schlamm und Beinbruch halten auf. Ein Mensch wird geschubst und fällt zu Boden. Ein weiterer segelt zwei Meter durch die Luft. Mir geht es ähnlich. Ein Freund will mich schützen „Der hat ein gebrochenes Bein Mann!“ und kassiert eine Faust. Eine aufgeplatzte Augenbraue und ein überhastetes Feld später schauen wir uns verständnislos an. Es ist das erste mal, dass wir Polizeigewalt erlebten. Das erste Mal, dass wir in Polizei-Konfrontation kamen. Wir fragen uns, ob wir unsere wichtigste Grenze – die Gewaltfreiheit – überschritten hätten. Beim besten Willen fällt uns nicht ein, an welcher Stelle wir eine derartige Eskalation provoziert hätten.
Wir saßen, sangen und tanzten.
Auf einem Fleck Erde.
Kamen niemandem zu nahe.
Genau wie in Lützerath selbst, wo auch an diesem Tag Aktivist:innen geräumt wurden. Ein denkmalgeschützter Hof abgerissen und Bäume gefällt wurden.
Und doch mussten wir weichen. Gewaltvoll. Wie auch das Dorf gewaltvoll weichen muss.
Benommen treten wir den Weg zurück ins Camp an.
Eine Frage bleibt:
Warum?
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Friedel (Sonntag, 15 Januar 2023 22:58)
Mein Name steht in dem Text deshalb wollte ich hier mal meine Oma grüßen
Danke fürs schreiben ♥️
Frau Gund (Montag, 16 Januar 2023 08:08)
Ich bin tief berührt. Der Bericht schildert so gut die Erlebnisse von einer Person. Einer Person von vielen. Solche und ähnliche Momente sind wohl vielen Menschen auf dieser Demonstration begegnet. Mir ebenso. Was bleibt sind viele Fragen und Emotionen, die einzuordnen sind. Wie ein durch sinntflutartige Regenschauer angeschwollener Bach, der Sedimente aufwirbelt und alles mit sich reißt und das Wasser dunkel färbt. So braucht es auch hier Zeit, bis sich die Sedimente setzen. Und vielleicht, ganz vielleicht hat sich die Lage des Flußbetts verändert.
Wo gelangt das Wasser nun hin? Wer kann es wissen!? Doch sind es sehr viele Bäche, mit gewaltiger (jedoch gewaltfreier) Zugkraft, die zueinander finden und einen reißenden Strom bilden können.
Power to the people...
Luise (Dienstag, 17 Januar 2023 21:28)
Danke, dass du das mit uns teilst. Sehr berührend, sehr starke Worte und sehr krasse Arbeit! Danke ��