Einen Sommer Regen

Lange habe ich überlegt, wie ich meinen Weg durch Deutschland in Worte fasse. 
Denn ich wollte von der Reise durch dieses Land berichten, das so viel zu bieten hat.
Nur fehlte die eine Geschichte… bis ich dann eine umfassendere Erzählung fand.

Ein etwas ungewöhnlicher Text für meine Verhältnisse, da er nicht nur ein Abenteuer beschreibt, sondern zwei-einhalb Wochen meiner vierten Radreise durch Europa.
Lies selbst:

Grün – nach 1.000 Kilometern, die Schnellge mich durch Deutschland trägt, könnte ich von halbleichten Fahrradpannen, nervenaufreibenden Knieverletzungen oder den kulturellen Unterschieden der Achsen unseres Landes berichten – und von den Slapstick-Comedy-Momenten, die sich aus all dem ergeben. 

Trotzdem weiß ich lange nicht so recht, was ich erzählen soll. 

Irgendwie ist alles ein bisschen zu normal. 

Ein bisschen zu vorhersehbar.

Ein bisschen zu deutsch…

 

Doch dann ist die Besonderheit ganz klar.

Nur nicht offensichtlich, weil zu allgegenwärtig.

 

Denn was mir permanent ins Auge fällt, ist die durch und durch grüne Welt, die mich stets umgibt.

Das grüne Band, das sich auf meinem Weg durch Deutschland unter den Reifen meines Rades ausrollt.

 

Aber nochmal von vorn: Schnellge - das ist Helges Nachgänger. Ein Rennrad-esques Trekking-Rad, das ich für meinen Weg nach Sizilien gesponsert bekommen hab. 

Am leichtesten lässt sich das Verhältnis von Rad und Reisendem als beste Freunde auf Zeit beschreiben, denn die Dauer und die Hürden, welche zusammen überkommen werden, haben einen zusammenschweißenden Effekt.

 

Es ist Ende Juli und mit jedem Meter, den mich mein neuer Begleiter gen Süden trägt, frage ich mich, ob ein Sommer jemals so lebhaft war. 

Zur gleichen Jahreszeit wie auf meiner Tour nach Griechenland könnte die Welt nicht unterschiedlicher aussehen. 

Und das obwohl mein Weg mich die ersten Tage über dieselben sandigen Elbwege führt. Obwohl ich dieselben Fähren nehme und die erste Nacht unter denselben Bäumen schlafe.

 

Naja, fast denselben… denn die Weiden zwischen denen ich vor zwei Jahren unmittelbar am Elbufer schlief, verbergen sich heute hinter meter-hohen Gräsern. 

Der Weg ist versperrt. 

Stattdessen gehe ich 50 Meter weiter – ein drei-einig erscheinender Pappel-Pavillon eröffnet sich mir als Raum für meinen ersten Lagerplatz.

 

Das Tarp gegen den Gewitter-Sturm in die rau-anmutenden Bäume gespannt wird es eine unruhige Nacht.

 

Dagegen 2022? 

Trockenheit, Hitze, Feuerbrunst. Europa trocknet aus und das Bild, das sich ergibt, ist nicht grün sondern braun. 

Lediglich die ersten Meter des weit zurückgewichenes Ufers, scheinen noch Leben zu bergen.

Unter meinen Sohlen knistert das vertrocknete Gras. Am Horizont steigt Rauch eines Buschfeuers auf.

Die monatelang andauernde Hitze, das gleichzeitige Ausbleiben von Regen und die resultierende all-umfassende Trockenheit führten zu dieser Kulisse.

Sie inspirierte mich dazu, meine nächste Reise der Renaturierung von Mooren, also dem Erhalt natürlicher Wasserkreisläufe zu widmen. 

 

Eine Idee, die mir heute nicht kommen würde.

 

Statt verdorrter Tristesse säumen bunte Deiche meinen Weg. Ihre weiß-blau-gelbe Blütenpracht lässt kaum einen Fleck grünen Grundes hindurchscheinen. 

Falter, Schwebfliegen und Wildbienen umschwirren messerscharf Schnellges ewig kreisende Speichen. 

Sonnenbadend auf warmen Stein stoben sie vor mir auf. Splitt fliegt ihnen hinterher.

Mich begleitet das Bild einer lebendigen Welt.

Auch lange nachdem der Fluss und seine Deiche hinter mir liegen. 

 

Je weiter ich komme, desto wärmer wird es auch in diesem Jahr. 

Erst erliegen die Küstenwinde, dann wird die Luft trockener und schließlich sind die Nächte zu warm für meinen Schlafsack.

Doch auch wenn die Luft am Horizont flimmert, wird sie immer wieder von kleinen und großen Schauern gekühlt.

Begleitet von Vogelgezwitscher bringen sie eine freudige Abwechslung.

 

Aus jedem Wald und jeder Wiese singen mir ihre Stimmen entgegen. Jeder Baum erzählt eine Geschichte von goldenem Licht das in grünem Wunder CO2 zu Nährstoff und Sauerstoff bricht. Mit Wasserkraft und Solarenergie. 

Ein Sommer Regen schafft die Grundlagen des Lebens. 

 

Ich greife nach meiner Edelstahl-Thermosflasche, atme der Sonne entgegen und nehme einen tiefen Schluck des kühlenden Wassers.

 

Den Kopf noch im Nacken sehe ich Rotmilane. Wie sich ihre rostrote Silhouette dunkel gegen den blauen Himmel abhebt. Lautlos schneiden sie durch die Luft, bis ihr Schrei sie doch zerreißt – getragen von warmen Winden, erinnern sie mich nach meinem Streben nach Freiheit und Autonomie.

 

Es fällt so leicht diese Kulissen zu romantisieren, wenn das Leben aus jeder Ecke mit seinen Fabeln winkt.

 

Längst rolle ich nichtmehr über Sandwege. Statt über Deiche fällt mein Blick über Ebenen von Wildblumen-Wiesen, Knicks und Entwässerungskanälen. 

Auch Wolfsburgs Drömling blüht. 

 

Für Heute in Begleitung, fliegt das Naturschutzgebiet unter uns hinweg.

Neben Anton geht es über die brüchigen Betonplatten schnurgerader Wirtschaftswege, auf denen einmal Grenzer patrouillierten. Knieschonend viele Pausen bringen uns langsam voran. Die ersten Tage überlasten meine Oberschenkelmuskulatur, doch vom Brückensims in den sieben Meter tiefer liegenden Mittellandkanal zu springen – das lasse ich mir nicht nehmen.

Genau hier verlief einst der Schließmechanismus des Kanals, erklärt uns ein altes Ehepaar.

„Falls mal jemand mitm Boot fliehen wollte…“

 

Wir kommen in der Autostadt an und unsere Wege trennen sich. Anton ist Lightbikepacker, hoch motiviert und zu schnell für mich und mein Knie.

 

Einen Tag Pause und ich denke an eins unserer Gespräche: Er wisse nun, was ich den ganzen Tag mache… denn es fühlt sich nach Urlaub an – die Tagestour mit mir.

 

Zwei Nächte später schlafe ich unter einem alten Wachturm und die Landschaft beginnt sich zu wölben. 

Aus einem leichten Heben und Senken werden Hügel, deren flachen Kuppen voll kleiner Wälder stehen. Wie Baumwellen rollen die Hügel über das Land bis sie flache Berge werden.

Ich frage mich, was mit ihnen nicht stimmt. Ihre Silhouetten verschwimmen seltsam grau gegen den Horizont.

Ein Glitch in der Matrix?

Nein – Der Harz erblasst unter seinen sterbenden Fichten. Ihre weißen Gerippe verzerren seine Kontur gegen den milchig-blauen Horizont. Dreihundert-Millionen toter Marterpfähle, die vom Ende einer Monokultur zeugen. 

Und vom Neubeginn eines Biodiversitätswandels. 

Er kommt und nutzt die Möglichkeiten eines Sommerregens. 

 

Denn tot ist der Harz lange nicht. 

Wo einst dunkle Wälder eine mystische Landschaft prägten, übernehmen heute die hellen Blütenmeere violetten Feuerkrauts die Flur. Eine deutsche Savanne blüht auf, bis die jungen Laubhölzer den Bergen ein neues Antlitz geben. 

Buche, Eiche, Kastanie, Esche und Birke – viele alte Gesichter des Waldes kommen wieder.

Weil mensch-gemachte Einheitlichkeit ihnen nicht gewachsen war – den Herausforderungen unserer Zeit.

 

Über den Oder-Stausee führt mein Weg ins Werra-Tal. Hier fallen Sandsteinfelsen steil in den flachen Fluss. Sie türmen sich auf bis in den Thüringer Wald, wo Sinusfahrten auf Loch-Betonpfaden mir die Puste versagen.

 

Viele Male kreuze ich nun den Weg eines braunen Schildes. 

„Hier waren Deutschland und Europa bis zum 10.Februar 1990 um xx Uhr geteilt“

Jeder Ort hat seinen eigenen Moment, in dem er sich entschied eine Grenze aus den Köpfen zu streichen.

 

Dazwischen Wald, Wild und die Wartburg. 

Auf diesem Weg wurde Geschichte geschrieben. 

Deutsche Sprache, Religion und Entstehung.

Deutsche Teilung.

Und deutsche Einheit.

 

In Bayern flacht die Welt überraschend ab. Idyllische Orte, viele Kirchen und Städtchen folgt Stadt. Gelegentlich bleibt mir der Mund vor offensichtlichen und historisch erhaltenen Wohlstand stehen.

Weiße Schlösschen, gelbe Anwesen, große Häuser, reiche Felder.

Karolinger bis Habsburger haben hier Wohlstand genährt. Ein historischer Haufen Gold liegt sprichwörtlich in den oft perfekten Straßen, über die ich fahre. Und auch, wenn es nicht überall so offensichtlich ist, so gilt das doch für ganz Deutschland.

 

Ich schlafe an einem Mensch-gebaggerten See ein und werde von einem O-beinigen Opa auf Gänsejagd geweckt. Wie eine Bombe explodiert der Schuss seiner Schreckschuss in meinem träumenden Kopf. Sprengt meine Träume von einem Land…

„Wo sind die Viecher?!“ rennt er ihnen mit der Pistole fuchtelnd nach und kümmert sich nicht um den Radreisenden, der an seinem See offensichtlich wildcampt. 

 

Trotz diesem und anderer wilder Momente, kommt Deutschland mir auf meiner Reise wie ein Land vor, in dem Milch und Honig fließen. Ein Land, das seine Geschichte von Menschenrechten und ihren Verletzungen stärker aufbereitet hat, als irgendein anderes Land der Welt.

Ein Land dessen Flüchtlings- und Fluchtauslösende Geschichte traurige Berühmtheit erlangten.

 

Kein Wunder, dass Menschen hierher flüchten.

In dieses Land von einem Sommer Regen.

Kein Wunder, dass ich mehr für sie erwarte, als Grenzziehung und Gänsejagd.

Von diesem Land, dessen Geschichte von Einheit sich gerade erst niedergeschrieben hat, auf seinem grünen Band.

 

Dem Band, das zeigt, dass Grenzen beliebig gesprengt werden können.

Dass neben allen Unterschieden die Menschlichkeit obwiegt.

Dass Integration keine Einbahnstraße ist.

Und dass Wunden heilen können.

 

Dem grünen Band des Möglichen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Stephanie Oldehaver (Sonntag, 11 August 2024 14:09)

    Ich liebs.�

  • #2

    Leopold Kern (Sonntag, 11 August 2024)

    Poetischer Text. Wirklich sehr romantisch deine Reise wiefergegeben. Toll!